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Saturday, April 08, 2006

51. Tag: die Zukunft: folgt Holakratie auf Demokratie?

Brian präsentiert sein Konzept im I-I Office

Vor einigen Tagen durften wir hier an einer Mitarbeiterbesprechung im I-I teilnehmen, zu der Brian Robertson, der Gründer einer Softwarefirma eingeladen war. Brian Robertson hat einen neuen Weg gefunden, um Entscheidungsprozesse und Organisationsstrukturen derart umzugestalten, dass sie dynamischer, flexibler, integraler und letzlich auch 'transpersonaler' funktionieren können. Auf diese Weise hat er sein Unternehmen extrem erfolgreich gemacht. Nun hat er sein Wissen und seine Erfahrungen mit dem I-I geteilt. Ken ist begeistert von diesem Ansatz und auch die Mitarbeiter am I-I brennen darauf, das Ganze in die Tat umzusetzen.

Das Ganze nennt sich "Soziokratie" und nachdem Ken und Brian sich unterhalten haben "Holakratie", bzw. "holacracy". Das Kernverfahren ist ein Prozeß der Entscheidung via "consent" (Einwilligung/ Einverständnis) im Gegensatz zu "consensus" (Konsens) und die Kernstruktur holarchisch angeordnete Gremien, die systematisch die Perspektiven aller Beteiligten berücksichtigen.

Das Verfahren geht so: der Facilitator des Prozesses bringt einen Vorschlag über ein Vorgehen in einer bestimmten Sache zur Abstimmung. Jeder darf Vorschläge machen. Jeder Teilnehmer ist der Reihe nach dazu aufgefordert zu dem Vorschlag Stellung zu nehmen und alle rationalen Einwände vorzubringen, die der Sache nach dagegen sprechen könnten, weil sie "außerhalb der Grenzen der Toleranz des ganzen Systems liegen" - wie auch immer diese Grenzen im konkreten Fall aussehen mögen. Dadurch werden die verschieden objektiven (3.Person-) Sichtweisen auf die Sache ausgetauscht, so dass sich jeder ein besseres Bild von der Situation machen kann.

Persönliche Vorlieben und Abneigungen werden nicht als Begründung akzeptiert. Sie werden jedoch ernst genommen und vom Facilitator hinterfragt, weil sie oftmals Information über objektive Grenzen des Systems verbergen. Auch vage Ahnungen und Bauchgefühle werden mit Respekt behandelt und mit ihrer verborgenen Logik an die Oberfläche gebracht. Wenn keine Gründe dagegen sprechen einen Vorschlag anzunehmen, dann wird mit dieser Entscheidung weitergearbeitet, bis das System an seine Grenzen stößt. Dann wird ein neuer Vorschlag gemacht und zur Abstimmung gebracht. Entscheidungen können jederzeit neu verhandelt werden, wenn sich neue Daten und Fakten im Prozeß zeigen.

Dies ist der Unterschied zum System des Konsens, bei dem alle im Grunde zustimmen müssen (anstelle von "kein sachlich-plausibles Gegenargument wissen"), bevor eine Entscheidung gefällt werden kann: Es geht nicht darum, ob ich persönlich - quasi mein Ego- wählerisch bin und eine andere Vorliebe habe. Dieses Verfahren entzieht dem Ego das Wort und fragt nach objektiven Gründen (dritte Person Perspektive), die im Interesse aller liegen. Wer einen Konsensprozeß aus persönlichen Gründen blockieren will, der kann das tun, indem er einfach nicht zustimmt. Das geht im Verfahren der 'Einwilligung' (consent) nicht, denn es werden immer Gründe verlangt - andernfalls wird das unter "keine Einwände gegen den Vorschlag" verbucht. Hierdurch wird der Entscheidungsprozeß drastisch beschleunigt.

Soviel (bzw. wenig) zum Verfahren innerhalb einer Holakratie. Die Struktur sieht in etwa folgendermaßen aus:
Innerhalb eines Unternehmens (oder welcher Gruppe auch immer) gibt es verschiedene Kreise von Zuständigkeiten, die sich (zumindest in dieser Struktur) natürlich aus den Aufgaben ergeben, die sich ein Unternehmen stellt. Diese Arbeitsgruppen mit ihren verschiedenen Zuständigkeiten haben jeweils zwei Vertreter, die ihre Perspektive innerhalb eines holarchisch übergeordneten Kreises vertreten: zum einen ist das der Verantwortliche des Projektteams, zum anderen ein Vertreter aus dem Reihen der Mitarbeiter, der als geeignet erscheint, um die Perspektive der Arbeitsruppe in einem höheren Gremium zu vertreten. Dieser "double-link", bzw. dieses 'doppeltes Bindeglied' verknüpft die Anliegen und Perspektiven mit der nächsthöheren Ebene, in diesem Fall vielleicht das Gremium mit den Leitern und Vertretern aller Projektgruppen. Diese Gruppe hat einen Verantwortlichen, sowie einen weiteren Repräsentanten, die dann beide im Top-Circle vertreten sind. Auf diese Weise kann ein einfacher Arbeiter aus dem hierarchisch untergeordneten Kreis einen Vorschlag einbringen, der durch alle Kreise nach oben hin diskutiert werden kann (sofern keine objektiven Gründe gegen seine Umsetzung sprechen). Das ist laut Robertson auch schon in einer belgischen Firma geschehen, die dieses System übernommen hat.

wie Fahrradfahren Ein Bild das Robertson verwendet, um die Unterschiede zu konventioneller Unternehmensführung zu illustrieren ist das Bild vom Fahrradfahren. Konventionelle Unternehmen stecken sich ein Ziel in der Zukunft, versuchen den Weg dahin möglichst korrekt vorher zu sagen und arbeiten dann darauf hin mit der Befürchtung, dass es doch anders kommt als erwartet und geplant. Sie fixieren das Ziel am Horizont, versuchen den Lenker möglichst genau auszurichten und treten dann mächtig in die Pedale. Holakratie hingegen versucht zwar das Ziel im Kopf zu behalten, doch vetraut sich der Intelligenz des Prozesses an. Statt den Lenker zu arretieren fährt man mit etwas Schwanken und Schaukeln und korrigiert die Stellung des Lenkers, wann immer nötig. Man ist immer in Kontakt mit den Grenzen des Systems und Feedback wird ständig berücksichtigt und verarbeitet. Dadurch entsteht ein dynamisches Gleichgewicht ohne Anspannung und Angst, denn Fehler und Spannungen innerhalb des Systems sind lediglich Feedback und Lernerfahrung, die zur Optimierung weiterverarbeitet wird.

Bei der Entscheidungsfindung wird nicht nach der "besten" Lösung Ausschau gehalten (wer weiß schon, was das ist, denn jeder Einzelne hat seine eigene Vorstellung davon), sondern lediglich nach einer Lösung, gegen die im Moment kein sachlich berechtigter Einwand vorliegt. Auf dieser Grundlage wird dann weiter gearbeitet. Es gibt keinen Grund an vergangenen Entscheidungen festzuhalten - man kann jederzeit auf den Input der Umwelt reagieren und neue Vorschläge machen. Das macht das Ganze durchlässiger für Eros - den kreativen Impuls der Evolution, der sich als kollektive Intelligenz ausdrücken kann.

Für alle was dabei Robertson spricht von der transpersonalen Qualität der Entscheidungsprozesse, die die Beteiligten zeitweilig einen höheren Zustand jenseits des Ego erfahren lassen. Ich denke, dass das z.T. durch den Zwang die dritte-Person-Perspektive einzunehmen katalysiert wird. Die Genialität dieser Struktur, die Robertson in seiner Firma durch schmerzliche Versuch-und-Irrtum- Prozesse herausgearbeitet hat liegt unter anderem auch darin, dass sie die Werteebenen traditionell, modern und postmodern (blau, orange, grün) anspricht, die alle etwas Positives daran finden. Traditionelle Gemüter schätzen die klare Struktur und die Regeln, Modernisten die Vielfalt der Optionen und die Effektivität des Prozesses, die Postmodernisten schließlich mögen, dass jeder gehört wird und an den Entscheidungen beteiligt ist. Und second-tier (integral) sitzt da und lächelt. Genial daran ist, dass ein evolutionärer Sog geschaffen wird, der alle Individuen systematisch auf der Entwicklungsleiter nach oben zieht.

WIE Als damals die Zeitschrift „What is Enlightenment“ in einer Ausgabe über das Titelthema „kollektive Intelligenz“ berichtet hat, fand ich das Ganze zwar spannend, doch irgendetwas hat mir damals gefehlt. Auch bei dem Gedanken an integrale Politik habe ich bisher nie das fehlende Puzzlestückchen identifizieren können: die systemisch-strukturelle Dimension von second-tier. Wie sieht eine integrale Gemeinschaftsstruktur denn konkret aus? Robertsons Ansatz erscheint mir als eine gute erste Antwort und auch als gangbare und effektive Alternative auf das zunehmend defiziente System der Demokatie.

Wie Wilber in seiner in Zukunft erscheinenden Terrorismus-Trilogie schreibt, könnte eine postmoderne (grüne) Weltföderation die Bevölkerung dieses Planeten um die Hälfte dezimieren. In Wilbers Fiktion führt diese Föderation nämlich ab einem gewissen Punkt die „E-Demokratie“ ein, bei der alle Menschen elektronisch via Internet aufgefordert sind zu wählen. Schnell gewinnt dadurch der ethnozentrische Anteil der Bevölkerung (derzeit ca.70% der Weltpopulation) die Oberhand und führt repressive Strukturen ein, die einander bekriegen. Eine düstere Aussicht.

Allein deswegen scheint es mir sinnvoll Holakratie auszuprobieren – um eine Alternative in der Hinterhand zu haben…

Wer mehr wissen will, der kann sich hier ein Interview mit Brian Robertson herunterladen (auf Englisch).
http://www.ternarysoftware.com/pages/downloads/BrianRobertsonInterview2006-02-08.pdf

Ebenfalls aufschlußreich und voller Material (auch Audios) zum Download ist http://enlightenedbusiness.blogspot.com/

www.holacracy.org - offizielle Homepage über Holacracy